Margrit Schneeweiss bewahrt die Erinnerung an ihren Urgroßonkel Heinrich Marum (auf dem Familienfoto rechts), der einst in der Kirchstraße wohnte, sowie an ihre Großeltern Amelie und Alfred Marum. (Foto Marion Unger)
13 Stolpersteine im Gehwegpflaster vor einigen Sobernheimer Häusern erinnern an die Bürger jüdischen Glaubens, die einst hier gewohnt haben. Weitere sollen folgen. Die glänzenden Quadrate tragen die Namen der früheren Bewohner, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Einer davon war Heinrich Marum, der Urgroßonkel von Margrit Schneeweiss, die im bayerischen Vilsbiburg lebt. Im Gespräch mit Marion Unger äußert sie sich zu der Aktion Stolpersteine.
Frau Schneeweiss, als Enkelin von Alfred Marum, dem letzten Vorsitzenden der Sobernheimer jüdischen Gemeinde, ist ihnen das Schicksal eines Familienangehörigen vertraut, der deportiert und ermordet wurde.
Ja, das war Heinrich Marum, der Onkel meines Großvaters Alfred. Ich habe heute noch ein Bild von ihm, auf dem er in seinem Wohnzimmer zu sehen ist. Mit fast 94 Jahren wurde er 1942 deportiert und kam im KZ Theresienstadt ums Leben.
Vor dem Haus in der Kirchstraße 9 erinnert nun ein „Stolperstein“ an ihn. Was sagen Sie dazu?
Ich bin begeistert von dieser Aktion. Es ist eine großartige Idee, mit diesen Steinen das Schicksal der ermordeten Sobernheimer Juden ins Gedächtnis der Stadt zurückzurufen. Bisher sind die Schicksale der Deportierten und Ermordeten hauptsächlich in den Familien der Opfer präsent. Durch die Stolpersteine werden auch andere Menschen auf das Leid aufmerksam, das ihre Mitbürger erlitten haben. Das ist wichtig, damit es nicht vergessen wird.
Die Stolperstein-Aktion ist nicht ganz unumstritten. Werden die Deportierten symbolisch so mit Füßen getreten?
Wie immer gibt es über jede Aktion in diesem Zusammenhang unterschiedliche Meinungen. Das ist normal. Für mich ist ein Stück Metall im Gehsteig nicht so etwas wie ein Grabstein, wie schon einmal behauptet wurde.
Sondern?
Eine Erinnerung an die Frauen, Männer und Kinder, die in den Häusern als Sobernheimer Bürger gelebt haben. Wer dort vorbeikommt, zögert vielleicht beim Anblick der Steine, die mitten im Pflaster glänzen und einen Namen tragen. Es besteht die Chance, dass man sich das Schicksal der Opfer bewusst macht. Wer erinnert sich denn noch an sie? Die Jahre vergehen und bald weiß niemand mehr, wer hier gewohnt hat.
Ihre Großeltern sind mit ihren Kindern 1938 in die USA geflohen. Wie kommt es, dass Ihre Familie heute noch einen Bezug zu Bad Sobernheim hat?
Meine Schwester Kathrin Krakauer und ich sind in Andover, an der Ostküste der USA, aufgewachsen. Aber Sobernheim war praktisch ein Teil unserer Kindheit, so etwas wie die Heimat im Herzen. Als Kinder waren wir immer ganz gespannt auf die Geschichten, die unsere Großeltern Amelie und Alfred Marum von der alten Heimat erzählt haben. Wir trafen dort auch Cousins und Cousinen. Die Marum-Familie ist sehr groß.
Welche Rolle spielte die Nazizeit in diesen Erzählungen?
Der Schatten der Vergangenheit war immer gegenwärtig. Meine Großeltern und deren Kinder haben es geschafft zu fliehen, leider nicht der Onkel Heinrich Marum. Es gab so viele Freunde und Verwandte, die umgekommen sind. Schon als Kind sah ich das als großes Unrecht und fragte mich, wie das passieren konnte.
Eines Tages waren Sie dann selbst zu Besuch in Sobernheim. Erinnern Sie sich noch daran?
Das war 1953. Mit meiner Mutter und meiner Schwester war ich dort und die Geschichten wurden auf einmal real. Ich erinnere mich, wie das Haus meiner Großeltern in der Bahnhofstraße damals ausgesehen hat, vor allem an den Garten, der heute der Marumpark ist.
Später sind Sie dauerhaft nach Deutschland gekommen. Wie kam es dazu?
1969 ging ich zum Studium nach München. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Wir heirateten und meine Kinder kamen hier zur Welt.
Wie fühlten Sie sich als amerikanische Jüdin in Deutschland?
Wir lebten in einer niederbayerischen Kleinstadt, in der immer noch viele Menschen von einer „braunen“ Gesinnung geprägt waren. In Deutschland fällt man auf, wird als Exotin angeschaut. Sehr lange habe ich niemandem von meiner Herkunft erzählt.
Was empfinden Sie angesichts der stärker werdenden antisemitischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft?
Dieser Hass ist ja nicht neu, er war nur lange versteckt und kommt jetzt wieder zum Vorschein. Man muss Antisemitismus und Rassismus klar benennen und darf nichts beschönigen. Was oft aus Gedankenlosigkeit dahingesagt wird, darf man nicht durchgehen lassen.
Zum Beispiel?
Oft werden Antisemitismus und Kritik am Staat Israel in einen Topf geworfen. Eine antisemitische Grundhaltung hat aber nichts mit Politik zu tun.
Hat die Stolperstein-Aktion für Sie etwas Versöhnliches?
Durchaus. Es ist nur schade, dass ein öffentliches Gedenken wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte. Aber wenn es eine Fortsetzung gibt, werde ich bestimmt daran teilnehmen. Es wäre schön, wenn dann wieder ein Treffen der Nachkommen der jüdischen Familien zustande käme.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Schneeweiss.
Das Interview führte Marion Unger
Text und Foto: Marion Unger