Auf der Suche nach Spuren der Ahnen

Nachkommen der Familie Marum zu Besuch in Bad Sobernheim

Vor dem Haus Kirchstraße 17 fand die Familie B’tesh einen „Stolperstein“, der an Heinrich Marum erinnert. Von links: Uwe Engelmann, Sascha Müller, Deborah und Salomon B’tesh mit ihren Töchtern Sarah und Simcha sowie Dolmetscherin Hannah Steinbach. (Foto Marion Unger)

Immer wieder zieht es Nachfahren der jüdischen Familien, die einst in Sobernheim gelebt haben, auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren hierher. So reisten Deborah und Salomon B’tesh aus Miami in den USA zusammen mit ihren Töchtern Sarah und Simcha an die Nahe. Deborah B’tesh suchte die Verbindung zu Sophie Marum, ihrer Ur-Urgroßmutter. Sie war die jüngste Tochter von Sarah Marum, der Stammmutter der Familie und Gründerin der Firma, die über mehrere Generationen hinweg in Sobernheim Strickwaren produzierte.

Bei Recherchen zu ihrer Abstammung im Internet stieß Deborah B’tesh auf die Aktion „Stolpersteine“. Vor den letzten Wohnstätten ehemaliger Sobernheimer Bürger jüdischen Glaubens wurden im Herbst 202013 quadratische Messingsteine im Pflaster verlegt, darunter auch vor dem früheren Anwesen von Heinrich Marum. Auf diese Weise soll an die Schicksale der Menschen erinnert werden, die dem Nazi-Terror zum Opfer gefallen sind. Über den Namen Marum in den Berichten zur Verlegung der Steine stieß die Familie B’tesh auf das Kulturforum mit seinem Arbeitskreis Synagoge und nahm Kontakt mit Sascha Müller auf.

Sascha Müller, der vor zwei Jahren die Aktion „Stolpersteine“ angestoßen hatte, organisierte für die Familie und ihre Begleiterin Hannah Steinbach, einen Rundgang durch Bad Sobernheim auf den Spuren der Familie Marum sowie auf dem jüdischen Friedhof auf dem Domberg. „Es war gut, dass wir Hans Eberhard Berkemann dabeihatten“, erklärt Müller. „Er ist ein wandelndes Lexikon, was die Geschichte der jüdischen Familien angeht, und hat viele Fragen der Besucher beantworten können.“

So führte der Weg zunächst in die Kirchstraße, wo vor dem Haus mit der Nummer 17 ein Stein an das Schicksal von Heinrich Marum erinnert. Er wurde im Alter von 93 Jahren 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert und kam dort – womöglich bereits auf dem Transport – ums Leben. Das nächste Ziel war das Stammhaus der Familie Marum in der Großstraße. Hier wurde Sophie Marum geboren. Sie heiratete den Kölner Max Loeb und starb 1924. Ihre Tochter Hedwig heiratete Ernst Silberberg und floh mit ihm in den 1930-er Jahren vor den Nazis nach Kolumbien.

Auf ihrem Weg passierten die Besucher das Firmengelände in der Marumstraße mit dem charakteristischen Übergang. Der Zufall wollte es, dass sie zunächst die jetzigen Besitzer des Hauses, das Ehepaar Kappes, trafen und danach Roland Ruegenberg. Der Eigentümer des Fabrikgebäudes öffnete spontan die Türen seines Unternehmens und ließ die Familie damit etwas vom Gründergeist der Marums spüren. 

Die Aktion „Stolpersteine“ soll ein Bewusstsein dafür wecken, dass die Stadt viele ihrer Bürger durch den Rassenwahn des NS-Regimes verloren hat. Sie will deren Schicksale ins kollektive Gedächtnis der Bürgerinnen und Bürger zurückrufen. Schon längst hätte Sascha Müller das Projekt fortsetzen wollen, aber die Corona-Pandemie bremste die Pläne aus. Schon beim Auftakt musste die Eröffnung drei Mal verschoben werden. Dennoch soll es bei den aktuell 13 Steinen nicht bleiben „Wir werden mit dem Kulturforum auf jeden Fall weitermachen und die Familie Marum in den Fokus nehmen“, kündigt er an. Er hofft dabei auf das kommende Jahr und dass trotz des damit verbundenen großen Aufwands Angehörige der Familie daran teilnehmen werden.

Text und Foto: Marion Unger

2022

2021

kursiv: Coronabedingter Ausfall

Interview mit Frau Schneeweiss über die Stolpersteinaktion in Bad Sobernheim

Margrit Schneeweiss bewahrt die Erinnerung an ihren Urgroßonkel Heinrich Marum (auf dem Familienfoto rechts), der einst in der Kirchstraße wohnte, sowie an ihre Großeltern Amelie und Alfred Marum. (Foto Marion Unger)

13 Stolpersteine im Gehwegpflaster vor einigen Sobernheimer Häusern erinnern an die Bürger jüdischen Glaubens, die einst hier gewohnt haben. Weitere sollen folgen. Die glänzenden Quadrate tragen die Namen der früheren Bewohner, die in der Zeit des Nationalsozialismus deportiert und ermordet wurden. Einer davon war Heinrich Marum, der Urgroßonkel von Margrit Schneeweiss, die im bayerischen Vilsbiburg lebt. Im Gespräch mit Marion Unger äußert sie sich zu der Aktion Stolpersteine.

Frau Schneeweiss, als Enkelin von Alfred Marum, dem letzten Vorsitzenden der Sobernheimer jüdischen Gemeinde, ist ihnen das Schicksal eines Familienangehörigen vertraut, der deportiert und ermordet wurde.

Ja, das war Heinrich Marum, der Onkel meines Großvaters Alfred. Ich habe heute noch ein Bild von ihm, auf dem er in seinem Wohnzimmer zu sehen ist. Mit fast 94 Jahren wurde er 1942 deportiert und kam im KZ Theresienstadt ums Leben.

Vor dem Haus in der Kirchstraße 9 erinnert nun ein „Stolperstein“ an ihn. Was sagen Sie dazu?

Ich bin begeistert von dieser Aktion. Es ist eine großartige Idee, mit diesen Steinen das Schicksal der ermordeten Sobernheimer Juden ins Gedächtnis der Stadt zurückzurufen. Bisher sind die Schicksale der Deportierten und Ermordeten hauptsächlich in den Familien der Opfer präsent. Durch die Stolpersteine werden auch andere Menschen auf das Leid aufmerksam, das ihre Mitbürger erlitten haben. Das ist wichtig, damit es nicht vergessen wird.

Die Stolperstein-Aktion ist nicht ganz unumstritten. Werden die Deportierten symbolisch so mit Füßen getreten?

Wie immer gibt es über jede Aktion in diesem Zusammenhang unterschiedliche Meinungen. Das ist normal. Für mich ist ein Stück Metall im Gehsteig nicht so etwas wie ein Grabstein, wie schon einmal behauptet wurde.

Sondern?

Eine Erinnerung an die Frauen, Männer und Kinder, die in den Häusern als Sobernheimer Bürger gelebt haben. Wer dort vorbeikommt, zögert vielleicht beim Anblick der Steine, die mitten im Pflaster glänzen und einen Namen tragen. Es besteht die Chance, dass man sich das Schicksal der Opfer bewusst macht. Wer erinnert sich denn noch an sie? Die Jahre vergehen und bald weiß niemand mehr, wer hier gewohnt hat.

Ihre Großeltern sind mit ihren Kindern 1938 in die USA geflohen. Wie kommt es, dass Ihre Familie heute noch einen Bezug zu Bad Sobernheim hat?

Meine Schwester Kathrin Krakauer und ich sind in Andover, an der Ostküste der USA, aufgewachsen. Aber Sobernheim war praktisch ein Teil unserer Kindheit, so etwas wie die Heimat im Herzen. Als Kinder waren wir immer ganz gespannt auf die Geschichten, die unsere Großeltern Amelie und Alfred Marum von der alten Heimat erzählt haben. Wir trafen dort auch Cousins und Cousinen. Die Marum-Familie ist sehr groß.

Welche Rolle spielte die Nazizeit in diesen Erzählungen?

Der Schatten der Vergangenheit war immer gegenwärtig. Meine Großeltern und deren Kinder haben es geschafft zu fliehen, leider nicht der Onkel Heinrich Marum. Es gab so viele Freunde und Verwandte, die umgekommen sind. Schon als Kind sah ich das als großes Unrecht und fragte mich, wie das passieren konnte.

Eines Tages waren Sie dann selbst zu Besuch in Sobernheim. Erinnern Sie sich noch daran?

Das war 1953. Mit meiner Mutter und meiner Schwester war ich dort und die Geschichten wurden auf einmal real. Ich erinnere mich, wie das Haus meiner Großeltern in der Bahnhofstraße damals ausgesehen hat, vor allem an den Garten, der heute der Marumpark ist.

Später sind Sie dauerhaft nach Deutschland gekommen. Wie kam es dazu?

1969 ging ich zum Studium nach München. Dort lernte ich meinen Mann kennen. Wir heirateten und meine Kinder kamen hier zur Welt.

Wie fühlten Sie sich als amerikanische Jüdin in Deutschland?

Wir lebten in einer niederbayerischen Kleinstadt, in der immer noch viele Menschen von einer „braunen“ Gesinnung geprägt waren. In Deutschland fällt man auf, wird als Exotin angeschaut. Sehr lange habe ich niemandem von meiner Herkunft erzählt.

Was empfinden Sie angesichts der stärker werdenden antisemitischen Tendenzen in der deutschen Gesellschaft?

Dieser Hass ist ja nicht neu, er war nur lange versteckt und kommt jetzt wieder zum Vorschein. Man muss Antisemitismus und Rassismus klar benennen und darf nichts beschönigen. Was oft aus Gedankenlosigkeit dahingesagt wird, darf man nicht durchgehen lassen.

Zum Beispiel?

Oft werden Antisemitismus und Kritik am Staat Israel in einen Topf geworfen. Eine antisemitische Grundhaltung hat aber nichts mit Politik zu tun.

Hat die Stolperstein-Aktion für Sie etwas Versöhnliches?

Durchaus. Es ist nur schade, dass ein öffentliches Gedenken wegen der Corona-Pandemie nicht stattfinden konnte. Aber wenn es eine Fortsetzung gibt, werde ich bestimmt daran teilnehmen. Es wäre schön, wenn dann wieder ein Treffen der Nachkommen der jüdischen Familien zustande käme.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Schneeweiss.

Das Interview führte Marion Unger

Text und Foto: Marion Unger

2020

kursiv: Coronabedingter Ausfall

Progrom-Gedenkstunde muss ausfallen

Bild Marion Unger

Bad Sobernheim. Es gab einen minutiösen Plan für das jährliche Gedenken an den Pogrom gegen die jüdischen Bürger Sobernheims im November 1938. Ein Rundgang zu den bereits verlegten Stolpersteinen vor den Häusern, die bis 1942 deren Wohnungen waren, sollte am 8. November in die ökumenische Gedenkstunde münden, die diesmal in der Mensa des Emanuel-Felke-Gymnasiums stattfinden sollte. Doch die Veranstalter hatten die Rechnung ohne das Corona-Virus gemacht. Beides muss auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Die Enttäuschung ist ihm deutlich anzumerken, als Sascha Müller darüber berichtet, wie die Veranstaltung hätte ablaufen sollen. Im Namen des Kulturforums hatte er die Initiative zur Verlegung der Stolpersteine angestoßen und mit dem Arbeitskreis Synagoge ins Werk gesetzt. Müller bedauert die Absage für den 8. November, betont aber: „Da Ganze ist nur aufgeschoben. Wir werden im nächsten Jahr einen geeigneten Zeitpunkt finden, um das Gedenken nachzuholen.“

Immerhin ist es gelungen, 13 Stolpersteine zu verlegen. „Da haben die städtischen Arbeiter sehr gute Arbeit geleistet und Anregungen zur Anordnung in den familiären Bezügen aufgenommen“, unterstreicht Müller. Eingelassen in die Gehsteige regen die quadratischen Steine mit ihrer glänzenden Messingplatte dazu an, innezuhalten, Namen und Schicksale der einstigen Bewohner der Häuser wahrzunehmen. „Es wird auf jeden Fall eine weitere Runde geben“, kündigt Sascha Müller an. Mit den ersten 13 Steinen sind noch längst nicht alle Sobernheimer Opfer erfasst.  

Der katholischen wie auch der evangelischen Kirchengemeinde ist es ein Anliegen, dass in einer Gedenkstunde auch wieder an alle jüdischen Opfer des Nazi-Terrors erinnert wird. „Das Gedenken an den Pogrom hat in Bad Sobernheim seit 1988 Tradition und die Akzeptanz ist stetig gewachsen“, erklärt Pfarrer Günter Hardt. „Gerade weil in unserer Gesellschaft zurzeit wieder so viel Antisemitismus mit Händen zu greifen ist, ist es die Verantwortung der Kirchen, ein Bewusstsein dafür aufrecht zu erhalten.“

Dem pflichtet sein evangelischer Kollegen, Pfarrer Christian Wenzel, bei: „Es geht um die Erinnerung an die jüdischen Opfer, aber auch um die Aufarbeitung der Ursachen von Antisemitismus und Judenfeindschaft in Religion und Gesellschaft.“ Auch die Frage nach den Tätern müsse in den Blick kommen sowie die Tatsache, dass Sobernheimer Christen der Verschleppung ihrer jüdischen Mitbürger schweigend zugesehen hätten.

Enttäuschung herrscht auch im Emanuel-Felke-Gymnasium. Der Leistungskurs Geschichte der Jahrgangsstufe 12 hat sich anhand der Stolpersteine mit dem Thema Holocaust befasst. „Die Schülerinnen und Schüler waren sehr betroffen, als wir die einzelnen Stolpersteine in den Straßen angesehen und über die Opfer gesprochen haben“, berichtet Diana Pfeifer-Blaum, die den Kurs unterrichtet. Es war geplant gewesen, dass die jungen Leute ihre Eindrücke in die geplante Gedenkstunde einbringen. „Wir werden daran weiterarbeiten“, stellt die Lehrerin in Aussicht und kündigt eine von den Jugendlichen gestalteten Poster-Ausstellung an.

An Anna Hartheimer erinnert der Stolperstein vor dem Haus Hüttenbergstraße 12, heute das Wohnhaus von Sascha Müller (4. von links). Pfarrer Günter Hardt, Pfarrer Christian Wenzel, Hans Eberhard Berkemann, Diana Pfeifer-Blaum und Andrea Coch sehen die Steine als Teil der Bad Sobernheimer Erinnerungskultur.

Einer von 13 Stolpersteinen erinnert an das Schicksal von Anna Hartheimer, die in der Hüttenbergstraße 12 wohnte, 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert und ermordet wurde. Hans Eberhard Berkemann hat einen Bericht von Zeitzeugen archiviert, die berichteten, dass sich die schwer pflegebedürftige Frau mit Händen und Füßen wehrte, als sie 26. Juli 1942 aus ihrem Haus geholt und in einen Möbelwagen verfrachtet wurde. Den Menschauflauf, den diese Aktion verursachte, nahm Friederike Wolff wahr, die wenige Meter davon entfernt in der Hüttenbergstraße wohnte. Die energische Frau, die nach dem Tod ihres Mannes dessen Metzgerei weiterführte, reagierte und warf ihr gesamtes Geschirr aus dem Fenster. „Ihr wollt mich nicht, dann kriegt ihr auch nicht mei‘ Sach!“, schrie sie den Nazi-Schergen entgegen. Elfriede Wolff war es auch, die ein Jahr lang zusammen mit der Haushälterin des katholischen Pfarrers heimlich eine Versorgung der jüdischen Bevölkerung mit Fleisch organisierte. Die Küche des Pfarrhauses diente als Umschlagplatz, wo das Fleisch in kleinen Portionen abgeholt werden konnte.  

Bild und Text Marion Unger

Oeffentlicher Anzeiger, 06.11.2020